[Junge Welt] Nach syrischem Muster Kämpfe in Ramadi und Falludscha: Islamisten wollen Irak spalten. Ziel ist Errichtung eines Kalifats vom Mittelmeer bis in die Provinz Anbar – Von Karin Leukefeld, Bagdad

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Von Karin Leukefeld, Bagdad

Unweit des britischen Soldatenfriedhofs in Bagdad liegt die »Medizinische Stadt«. Das Gelände ist weiträumig mit Betonmauern abgesperrt, nur durch wenige Zugangstore werden Autos hindurch gelassen. An der Zufahrt, die zu einer der zentralen Leichenhallen in Bagdad führt, entsteht Unruhe. Große, in blau-weiß-schwarzer Tarnfarbe getönte Mannschaftswagen drängen vom Gelände her über die schmale, holprige Straße zur Ausfahrt. Schwer bewaffnete und bis auf die Augen vermummte Soldaten einer Sondereinheit des Innenministeriums springen von den Fahrzeugen und stoppen mit gezogenen Gewehren den Verkehr, dann rollt der Konvoi rasch auf die Straße und verschwindet mit hoher Geschwindigkeit.

Die Sicherheitskräfte eskortieren zwei Krankenwagen mit schrill kreischenden Sirenen, am Ende des Konvois fährt ein verbeulter roter Pick-up. Am Steuer und auf dem Beifahrersitz sitzen zwei Männer in der üblichen Kleidung der ländlichen Bevölkerung. Ihre rotweißen, auf dem Kopf verschlungenen Tücher werden mit dem Aqbal, einem schwarzen Kordelring gehalten. Beide Männer lassen ihren Tränen freien Lauf. Neben dem Auto geht schluchzend ein junger Mann her, die Hände tief in den Taschen seines schwarzen Mantels vergraben. Auf der Ladefläche des Pick-ups steht ein einfacher Holzsarg, über den die irakische Nationalfahne gebreitet ist. Ein Mann sitzt neben dem Sarg. »Ein hoher Offizier ist bei den Kämpfen um Ramadi getötet worden«, erklärt der wachhabende Offizier, der die Ein- und Ausfahrt von Fahrzeugen akribisch kontrolliert. »Nun wird er von seinem Vater beerdigt.«

Bei vielen »Bagdadis« sind die Kämpfe in der Provinz Anbar seit Tagen zentrales Gesprächsthema. »Wir müssen uns auf das Schlimmste gefaßt machen«, sagt Kareem A., der ausländischen Fernsehteams im Irak hilft, mit der komplizierten Genehmigungsbürokratie zurechtzukommen. »Die Entwicklung folgt dem syrischen Muster«, ist der Journalist und Reserveoffizier überzeugt. »Sie tun so, als hätten sie politische Forderungen, doch tatsächlich wollen sie den Irak spalten.« »Sie«, das sind Kämpfer der Gruppe »Islamischer Staat im Irak und in Syrien« (ISIS) beziehungsweise »Islamischer Staat im Irak und in der Levante« (ISIL), die erstmals 2012 mit Anschlägen in Syrien auf sich aufmerksam machten. Die Gruppe wird von den Arabern »Daasch« genannt. Das Wort ist aus den Anfangsbuchstaben ihres langen Namens entstanden. »Daasch« will ein »Islamisches Kalifat« vom Mittelmeer bis Anbar errichten, was von der Mehrheit der Iraker und auch der Syrer abgelehnt wird.

Enttäuschung und Zorn der westirakischen Stämme von Ramadi und Falludscha über die Politik von Ministerpräsident Nuri Al-Maliki spielt ihnen dabei in die Hände. Maliki ist es auch in seiner zweiten Amtszeit nicht gelungen, Oppositionsgruppen in den Aufbau des von den US-Amerikanern neun Jahre besetzten Irak (2003 – 2012) einzubeziehen. Während Iran seinen Einfluß im Land festigen konnte, sehen sich die Kräfte im Irak, die sich geographisch, kulturell und wirtschaftlich enger mit Saudi-Arabien verbunden fühlen, an den Rand gedrängt.

Der Protest gegen Maliki wird seit Anfang 2013 in Camps organisiert, die von den Organisatoren als »Gebetsstätten für die Einheit« (des Iraks) bezeichnet werden. Eine dieser »Gebetsstätten« wurde zuletzt bei Ramadi auf der Autobahn zwischen Bagdad und Amman aufgeschlagen, was den internationalen Transitverkehr erheblich erschwerte. Mehrere polizeiliche Anordnungen, das Lager zu verlegen, wurden ignoriert. Erst am Tag der polizeilichen Räumung am 30. Dezember hatten Vertreter der Protestierenden offiziell bei den Behörden in Ramadi um die Zuweisung eines neuen Platzes für ihr Lager angefragt. Zu spät, bei der gewaltsamen Auflösung durch die Armee gab es Tote. Daraufhin reichten 44 Parlamentsabgeordnete in Bagdad aus Protest ihren Rücktritt ein und forderten den Abzug der Armee. Maliki beorderte das Militär zurück und hob die Belagerung von Ramadi und Falludscha auf, so daß Lebensmittel und Medikamente wieder geliefert werden konnten. Tags darauf stürmten die bewaffneten ISIS-Kämpfer in die Städte, setzten Polizeistationen in Brand und befreiten mehr als 100 ihrer Anhänger aus den örtlichen Gefängnissen. Der Sturm auf das Krankenhaus in Falludscha wurde von Einwohnern verhindert, erzählt der Kameramann Bilal am Telefon. »Niemand geht raus, überall wird gekämpft. Wir sitzen in unseren Wohnungen und haben das Gewehr neben uns, um unsere Familie im Notfall zu verteidigen.«

Karin Leukefeld nimmt teil an der von jW veranstalteten Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz am 11. Januar in Berlin am Podiumsgespräch »Vierte Macht und Heimatfront: Wie Medien Kriege mental möglich machen«