1957: DDR-Regierung legt einen Vorschlag zur Wiedervereinigung vor

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1957: Bonner Küche

Zeitgeschichte Die DDR-Regierung legt einen Vorschlag zur Wiedervereinigung vor, denkt an konföderative Strukturen und beruft sich auf Gespräche mit einem Minister Konrad Adenauers.

Von Georg Fülberth

Es sind zunächst einmal direkte Verhandlungen zwischen beiden deutschen Staaten, die der Regierung in Ostberlin vorschweben. Sie sollen zur „Bildung eines Staatenbundes zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Deutschen Bundesrepublik auf der Basis eines völkerrechtlichen Vertrages“ führen. Mit anderen Worten, es geht um eine Konföderation, die vorerst keine über beiden Staaten stehende selbstständige Staatsgewalt schaffen und jede Art von Herrschaft des einen über den anderen ausschließen soll. Gedacht ist weiter an einen aus Vertretern der Parlamente rekrutierten Gesamtdeutschen Rat, der beratenden Charakter haben und Maßnahmen empfehlen oder beschließen sollte, „die der schrittweisen Annäherung der beiden deutschen Staaten dienen“.

Der Vorschlag ist nicht völlig neu. Bereits am 30. Dezember 1956 hat ihn Walter Ulbricht als Erster Sekretär des SED-Zentralkomitees in einem Artikel unterbreitet. Am 30. Januar 1957 wiederholt er ihn auf dem 30. Plenum des ZK. Voraussetzung sei freilich eine Niederlage Konrad Adenauers bei den im September 1957 anstehenden Bundestagswahlen. (Die seit 1956 verbotene, aber illegal weiterbestehende KPD ruft zur Stimmabgabe für die SPD auf.) Danach müssten Umgestaltungen in der Bundesrepublik vorgenommen werden, die zwar nicht sozialistisch sein, so Ulbricht, aber die bisherigen ökonomischen und politischen Verhältnisse ändern müssten: „Liquidierung der Herrschaft der Monopole in der Bundesrepublik, der Verzicht auf die Politik der Remilitarisierung und Refaschisierung sowie der Verzicht auf die Teilnahme an aggressiven Militärbündnissen“. Nach Ulbrichts Ansicht bedeutet das lediglich eine Rückkehr zu den Grundsätzen des Potsdamer Abkommens von 1945. Danach erst könne es „gelingen, einen Gesamtdeutschen Rat, der sich paritätisch aus Vertretern beider deutscher Staaten zusammensetzt, zu bilden“. Die Mitglieder eines solches Rates sollten in beiden Teilen Deutschlands nach den jeweils geltenden Wahlgesetzen bestimmt werden. Ulbricht: „Ein solcher Gesamtdeutscher Rat wäre ein Organ der Vereinigung Ost- und Westdeutschlands auf der Grundlage der Föderation, das heißt eines Staatenbundes, der aus beiden deutschen Staaten – der Deutschen Demokratischen Republik und der westdeutschen Bundesrepublik – gebildet würde.“

Die Erklärung der DDR-Regierung unter Premier Otto Grotewohl vom 27. Juli 1957 unterscheidet sich von Ulbrichts Darlegungen dadurch, dass die von diesem genannten gesellschaftspolitischen Maßnahmen nicht zur Bedingung des Staatenbundes gemacht wurden. Für die „Berliner Erklärung“, die Frankreich, Großbritannien, die USA und die Bundesregierung zwei Tage später, am 29. Juli 1957, abgeben, spielt dies alles keine Rolle. Sie ist keine Antwort auf den Vorstoß der DDR, denn die wird vom Westen nicht als Völkerrechtssubjekt zur Kenntnis genommen. Der Schlüssel zur deutschen Wiedervereinigung liege in Moskau, heißt es, akzeptabel seien allein freie gesamtdeutsche Wahlen.

Beide Seiten blieben somit innerhalb eines Rahmens, der 1955 abgesteckt worden war: Die Bundesrepublik Deutschland war damals dem Nordatlantikpakt, die Deutsche Demokratische Republik dem Warschauer Vertrag beigetreten. Für den Westen war lediglich die Sowjetunion Verhandlungspartner, um das Terrain für eine Wiedervereinigung zu sondieren. Die jedoch bestand darauf, dass man sich in dieser Angelegenheit an die DDR zu wenden habe, die mit ihrem Konföderationsvorschlag dieser Vorgabe folgte.

„Die Anregung kam aus der Bonner Küche“

Am 18. November 1958 fasst Walter Ulbricht nach. Er gibt bekannt, schon längst hätten Gespräche von DDR-Vertretern mit einem „namhaften Mitglied der Bonner Regierung“ stattgefunden, und dieser Herr habe eine Konföderation vorgeschlagen. „Die Anregung kam aus der Bonner Küche.“ Die Bundesregierung dementiert sofort und bleibt auch noch dabei, als Ulbricht am 24. Oktober den Minister, der in Ostberlin gewesen sei, auffordert, er solle sich äußern. Am 11. November nennt er konkrete Termine der stattgefundenen Treffen und stellt in Aussicht, er werde den Namen des Betreffenden nennen, sollte der sich weiter bedeckt halten. Darauf meldet sich der nunmehrige Justiz- und frühere Finanzminister Fritz Schäffer (CSU) und gibt am 12. November nach Absprache mit seinem Freund Franz Josef Strauß bekannt, Gespräche in Ostberlin geführt zu haben.

Über einen Mittelsmann hatte sich 1955 Vincenz Müller, seit 1953 Chef des Stabes der Kasernierten Volkspolizei und ab 1956 des Hauptstabes der Nationalen Volksarmee der DDR, mit dem Angebot an Schäffer gewandt, ein Treffen mit Georgi Puschkin, dem sowjetischen Botschafter in Ostberlin, zu vermitteln. Müller war einst hoher Wehrmachtsoffizier und hatte sich nach seiner Gefangennahme 1944 dem Nationalkomitee Freies Deutschland angeschlossen. Nach 1945 setzte er seine militärische Laufbahn in der DDR fort. Schäffer und er kamen aus Bayern und kannten sich seit den 1920er Jahren. Die Einzelheiten der damaligen Vorgänge sind 1992 in einer Dokumentation der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte belegt worden.

Schäffer hatte Kanzler Adenauer 1955 über Müllers Avance informiert. Der riet ihm ab, stellte sich aber einer Reise nach Ostberlin nicht in den Weg. Schäffer konnte sich darauf berufen, dass Vincenz Müller für ihn nur ein Mittelsmann zu Puschkin, also zu der laut westdeutscher Doktrin allein zuständigen Adresse, gewesen sei. Deshalb sei er auch sofort abgereist, als der Botschafter sich verleugnen ließ. 1956 traf sich Schäffer tatsächlich – im Beisein von Müller – mit Puschkin. Er wiederholte die offizielle Bonner Position: Wiedervereinigung nach freien Wahlen, räumte aber ein, dass eine Vorbereitungszeit nötig sei. Während dieser Frist könnten die beiden deutschen Staaten bei voller Wahrung ihrer Selbstständigkeit besondere Beziehungen zueinander eingehen, ähnlich wie die Benelux-Staaten. In diesem Zusammenhang benutzte Schäffer das Wort „Konföderation“. Puschkin hörte sich seine Überlegungen an, erklärte sich aber für unzuständig und verwies ihn an die DDR. Darauf ließ der westdeutsche Besucher sich seinerseits nicht ein – so hatten beide Seiten ihren Standpunkt gewahrt.

Später gab Schäffer zwar zu, solche Gespräche geführt zu haben, behauptete aber explizit und wahrheitswidrig, von einer Konföderation sei nie die Rede gewesen. Doch kam diese Idee tatsächlich, ausweislich der Dokumente, „aus der Bonner Küche“. Erst mehrere Wochen nach dem Gespräch Schäffers mit Puschkin hatte auch Ulbricht sie vorgetragen.

Er kann dies unbedenklich tun, weil er hiermit bei der seit 1955 verfolgten Strategie bleibt, die DDR als Völkerrechtssubjekt mit Alleinzuständigkeit für die Vorbereitung einer etwaigen Wiedervereinigung zu etablieren. Als dies nicht verfängt, setzt der sowjetische Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow am 27. November 1958 einen weit wirksameren Hebel an. Er droht, den bisherigen Viermächtestatus Berlins aufzukündigen. Demnach wäre künftig nicht mehr die einstige Anti-Hitler-Koalition, sondern die DDR für die Art und Weise des Zugangs nach Westberlin und der Anwesenheit der Westalliierten dort zuständig gewesen. Es beginnt ein Prozess, der mit den Ostverträgen von 1970 bis 1973 eine Zwischenstation erreichen soll.

Anderthalb Jahrzehnte später taucht der Föderationsgedanke wieder auf. Bei seinem Besuch im Saarland 1987 wird Erich Honecker wieder einmal auf Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl angesprochen. Er irritiert seine Begleitung, westliche Beobachter und auch die sowjetische Diplomatie mit der Bemerkung, es sei denkbar, dass künftige Grenzen nicht mehr trennen, sondern verbinden. Sein Biograf Martin Sabrow behauptet, Honecker habe während der Schlusskrise der DDR wieder über die Option einer Konföderation nachgedacht. Im Zehn-Punkte-Plan Helmut Kohls vom 28. November 1989 ist von einer „Vertragsgemeinschaft“ und der „Schaffung konföderativer Strukturen“ die Rede