Ins Wilde. Vom 16. bis zum 21. Mai war der Kovorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Dietmar Bartsch, in der Ukraine. – Von Arnold Schölzel (junge Welt)

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Vom 16. bis zum 21. Mai war der Kovorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Dietmar Bartsch, in der Ukraine. Am Montag teilte er auf Twitter mit: »Viele Menschen in der Ukraine wollen, dass der Krieg schnellstmöglich endet. Europa kann und sollte diplomatisch mehr leisten. Ich werbe für eine europäisch abgestimmte Friedensini­tiative.« Die Sätze trugen ihm den im Twitter-Geschäftsmodell vorgesehenen Krawall von Leuten ein, die ihre Lesefähigkeit beim Twitter-Gebrauch verloren haben: »Widerlich, die Ukraine für Ihre Russland-Agenda zu missbrauchen«, »Dass die Ukrai­ner die Russen aus ihrem Land haben wollen, verschweigen Sie aber ganz zufällig?«, »Sie glauben immer noch, dass der Krieg und das Sterben aufhört, wenn die Ukraine kapituliert, oder?«

Das uniforme Wiederkäuen der herrschenden Aufgeregtheiten – von Gedanken, selbst herrschenden, ist das Musk-Revier frei – rief die Deutsche Welle auf den Plan. Der steuerfinanzierte Sender für Auslandspropaganda, der sich unverdrossen »unabhängig« nennt, stellte am Mittwoch ein Interview mit Bartsch in russischer Sprache auf seine Internetseite und bezog sich auf das Twitter-Gedöns. Erste Frage: »Ihre Partei lehnt Waffenlieferungen an die Ukraine ab.« Aber da sei doch die Abgeordnete Sevim Dagdelen, die so etwas »friedenspolitisch fatal« nenne. Bartsch: »Wenn man eine Nacht in Kiew verbringt, Sirenen hört und Luftabwehrsysteme im Einsatz sieht, kann man nicht mehr denken, dass das sinnlos ist. Nachdem ich das alles erlebt habe, hat sich meine Haltung zur Luftabwehrversorgung geändert. Es ist richtig, dass Kiew über solche Systeme verfügt. Und es wäre gut, wenn viele andere ukrainische Städte sie auch hätten.«

Da hat sich die Reise doch gelohnt: Sei vor Ort, dann wünschst du dir Waffen. Wie wäre es da mit einer Tour nach Donezk? Da wird seit 2014 gebombt und geschossen. Kiew nennt das antiterroristische Operation, hat bis 2022 etwa 14.000 Tote hinterlassen und Millionen Einwohner Richtung Russland vertrieben. Ist aber kein Krieg, jedenfalls für Bartsch, seine Kollegin Amira Mohammed Ali und Gregor Gysi nicht. Alles hat am 24. Februar 2022 begonnen, wie die drei auf der Internetseite der Linke-Fraktion kundtun. Beschuss der Kathedrale von Donezk jüngst exakt während eines Gottesdienstes am orthodoxen Osterfest im April? Tote und Verletzte täglich? Auch der russischsprachige DW-Dienst weiß davon nichts. Die Existenz der ostukrainischen Bevölkerung ist Putin-Propaganda.

Dem DW-Mann reichen Bartschs Waffenbekenntnisse aber nicht: »Sie persönlich haben den russischen Einmarsch als ›verbrecherischen Angriffskrieg Russlands‹ verurteilt. Die bereits erwähnte Sevim Dagdelen schreibt jedoch von einem ›Stellvertreterkrieg des Westens in der Ukraine‹ sowie von einem ›Wirtschaftskrieg gegen Russland und einem Stellvertreterkrieg der NATO in der Ukraine‹.« Da bricht es ein wenig aus Bartsch heraus: »Was die Bewertung des russischen Einmarsches als brutalen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg angeht, kann es keine zwei Meinungen geben. Dass die NATO ein Interesse daran hat, ist eine andere Sache. Aber ehrlich gesagt, diese Position – Stellvertreterkrieg und so weiter – hält der Kritik überhaupt nicht stand.« Wenn die NATO »ein Interesse daran hat«, führt Kiew keinen Stellvertreterkrieg? Wer in der Ostukraine seit 2014 nie einen Krieg wahrnahm, kann bei Kiews Feldzügen schon mal die Peilung verlieren.

Am 23. Mai zeigte das Kiewer Verteidigungsministerium übrigens bei Twitter voller Stolz »Leopard-2 in Ukraine. In the wild«. Auf einem Foto prescht der deutsche Panzer unter der schwarz-roten Bandera-Fahne ins Wilde. Bartsch hat doch recht: Stellvertretung eher nicht, vor allem Wiederholung.

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