10. März 2019
„Schönheit“, „Stolz“, „Liebe“ — die beiden Regisseure, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die neue Protestbewegung in Frankreich filmisch zu porträtieren, werden regelrecht poetisch, wenn sie von ihren Heldinnen und Helden sprechen. Mit Recht, denn wenn sich Menschen, die lange niedergedrückt und in Knechtschaft gelebt haben, endlich gegen ihre Unterdrücker erheben, geht ein Leuchten von ihnen aus. Und wer frei ist, ist auch schön. Wünschenswert wäre nun, dass der neue Aufbruch sowohl von der Mittelschicht als auch den „Intellektuellen“ nicht zerredet wird. Es bedarf des Mutes und des Einsatzes vieler, um die Wende zu schaffen.
Zum Artikel: https://www.rubikon.news/artikel/die-franzosische-revolution
Auszüge:
(…)
Ruffin: Weißt du, ich porträtiere diese Menschen, dieses Frankreich, (…) aber ihre Worte musste ich ihnen aus der Nase ziehen. Sie flüsterten im geschlossenen Raum ihrer Wohnung, da sie sich schämten. Sie schämten sich, weil sie nicht über die Runden kamen. Sie schämten sich, weil sie ihren Kindern keinen Urlaub bezahlen konnten. Sie schämten sich, dass sie ein Essen ausfallen ließen, weil der Kühlschrank leer war, zum Unglück kommt die Scham dazu.
Ich musste ihnen die Anonymität garantieren, damit man sie in ihrem Viertel oder ihrem Dorf nicht wieder erkennt … Die Armen verstecken sich, um zu leiden. Und auf einmal macht sich dieses unsichtbare Frankreich sichtbar, ultra-sichtbar, selbst in der Nacht, mit Leuchtwesten! Auf einmal besetzten sie den öffentlichen Raum, die Kreisverkehre und sogar die Fernsehshows! Und vor allem sprachen sie, schrien sie, schimpften sie … Ein großes Entladen. Es ist eine Zeit der Befreiung, zunächst der Befreiung der Worte, wie eine Staumauer, die bricht, und für einen Reporter ist das natürlich ein Traum, er muss nur noch das Mikro hinhalten.
Es erinnerte mich an Sätze von Philippe Gavi, einem Gründer der Liberation in den siebziger Jahren: Er wollte einen „demokratischen Alltag, der dem Volk die Stimme gibt, den Arbeitern, den Streikenden, den Bauern“, der „nicht mehr mitStereotypen von ‚Revolution‘ sprechen würde, mit vorgefertigten Ideen, glorifizierenden Beteuerungen, sondern mit all der explosiven Kraft, die die Worte entfalten, wenn die Fantasie und die Wirklichkeit mit den Worten verschmelzen“. Das haben wir gefunden, „Die ganze explosive Kraft der Worte“!
Perret: Ich würde noch etwas hinzufügen: Diese Männer und Frauen … wir haben sehr viele Frauen … sie erzählen nicht nur von ihrem Elend, dem liegt ein Kampf zugrunde, in ihrem Inneren, zwischen Verzweiflung und Hoffnung: Wird sich das ändern? Sie zweifeln, sie glauben daran, beides zugleich. Nicht nur für sich, für ihre Kinder, für die Gesellschaft, und sie sprechen von Harmonie, von Verbindungen und Brüderlichkeit. Diese Worte entfalten in ihren Mündern eine Kraft, denn sie sind nicht mehr abstrakt, irgendwelche Konzepte, sie werden von ihren Geschichten über Besiegte verkörpert. Ich denke an David, einen Selbstständigen, ein Kunsthandwerker, bis zum Hals in der Misere, Secours Populaire (französische Hilfsorganisation für dieArmen, Anmerkung der Übersetzerin) und Co: Am Abend, wenn er nach Hause kommt, nach dem Kohlenbecken, liest er dieVerfassung! Mit dem Wörterbuch daneben!
Das ist ein Anzeichen für einen revolutionären Moment, oder? Dieser plötzliche Reifeprozess?
Ruffin: Ach, die Revolution, also ich finde, sie wird so oft angekündigt … Aber letztendlich schwebt über dem Land eine sehr besondere Stimmung. Eine Szene verdeutlicht das. Wir sind an der Mautstation von La Barque in der Nähe von Marseille, in der Nacht, um zurück auf die Autobahn zu fahren. Wir kennen niemanden und wir wollen nicht zu den „Leadern“ … Also steigen wir in irgendein Auto ein: eine zarte Frau um die Fünfzig, gut frisiert und geschminkt, zwei Uhr morgens, in einem hübschen Mantel, einem hübschen Auto … Kurz gesagt: Sie könnte meine Mutter sein. Sie hatte eine Bäckerei, jetzt arbeitet sie im Pflegedienst, sie war noch nie demonstrieren … Und auf einmal stiehlt sie im Mondschein Verkehrskegel! Um Lkw zu blockieren! „Was bringt Sie dazu, kriminell zu werden?“, fragen wir sie. Sie lächelt: „Nein. Wir holen uns die Macht zurück.“ Sie hatte im Stillen nur Wut und Leid angesammelt. Wenn eine so normale, so ruhige Person am Aufstand teilnimmt, heißt das, dass etwas los ist.
Perret: Eine andere Begegnung hatte die gleiche Wirkung auf mich. In Mâcon, ein Opa mit Baseballkappe, aber genauso ruhig. Er dachte daran, aber ganz im Ernst, riesige Metallplatten zu bauen, die man vor die Bulldozer macht, die nach Paris fahren. DieBereitschaftspolizei müsste zurückweichen und so könnten sie bis zum Elysée kommen. Er dachte über diesen Plan nach, den er wohlüberlegt aussprach … Wir, mit unseren „linken“ Gewohnheiten, hatten uns Grenzen gesetzt, wir übernehmen die Kodizes der Demonstranten und dann sind wir es gewohnt zu verlieren, aber für sie ist alles möglich. Wenn der Durchschnittsfranzose sich für Lenin hält!
(…)
Perret: Selbst unsere Kameraden aus der Linken, die haben wir nicht bei den Gelbwesten gesehen. Oder sehr spät. Oder mitArgwohn. Denn es ist eine Bewegung, die keinem Standard entspricht.
Ruffin: Im allgemeineren Sinne ist es die ganze Mittelschicht, die Gebildeten, die Kultivierten, die diese Bewegung mit Misstrauen und Distanz hinterfragte. Das überrascht mich nicht, denn ich kenne diese Abgrenzung zur Unterschicht auswendig. Ich mache mir da keine Illusion: Wen wird unser Film in den Kinos berühren? Vor allem diese gebildete, kultivierte Mittelschicht. Aber umso besser. Umso besser, denn sie muss sie sehen, diese Männer und Frauen, und sich sagen: „Sie ähneln mir. Ich bin bei ihnen.“
Da Gilles Lenin zitierte – Wladimir Iljitsch sagte: „Eine pre-revolutionäre Situation platzt, wenn die oben nicht mehr können, dieunten nicht mehr wollen und die in der Mitte zu denen nach unten kippen.“ Die in der Mitte sind nicht gekippt. Sie haben stillschweigend die oben unterstützt, zumindest durch ihre Enthaltung, durch ihr Schweigen.
Doch jetzt ist es zu spät, oder?
Perret: Es gibt einen Satz von Howard Zinn: „Solange die Kaninchen keine Historiker haben, wird die Geschichte von den Jägern erzählt.“ Welche Spur davon haben wir bewahrt? Welche kollektive Geschichte haben wir daraus gemacht? Welchen Samen für morgen gesät? Diese Geschichte, diese Erinnerung darf nicht nur BFM anvertraut werden.
Ruffin: Genau. Denn das ist nicht vorbei, das ist sicher. Das ist ein Kampf mit langem Atem, der zwischen der Demokratie und der Oligarchie geführt wird. Wir sind heute Zeugen seiner autoritären Verschärfung, eines Konflikts, der sich zuspitzt. Und ich bin überzeugt, fest davon überzeugt, dass Worte, Bücher, Bilder, Filme in diesem Kampf die Waffen sind.
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