Das US-strategische Denken
Seit 70 Jahren war das Hauptziel der US-amerikanischen Strategen nicht, ihr Volk zu verteidigen, sondern ihre militärische Überlegenheit über den Rest der Welt aufrechtzuerhalten. In den 10 Jahren nach der Auflösung der UdSSR bis zu den Anschlägen vom 11. September 2001 suchten sie nach Wegen, um jene einzuschüchtern, die ihnen Widerstand leisteten.
Harlan K. Ullman entwickelte die Idee, die Bevölkerungen zu terrorisieren, indem man ihnen einen Riesenschlag auf den Kopf verabreicht (Shock and awe, Schock und Schrecken).1 Im Idealfall war es der Einsatz der Atombombe gegen die Japaner, in der Praxis die Bombardierung Bagdads durch einen Schwarm von Marschflugkörpern.
Die Straussianer (das heisst die Schüler des Philosophen Leo Strauss) träumten davon, mehrere Kriege zugleich zu führen und zu gewinnen (Full-spectrum dominance, Überlegenheit auf allen Ebenen). Dies waren dann die unter einem gemeinsamen Kommando geführten Kriege in Afghanistan und im Irak.2
Admiral Arthur K. Cebrowski befürwortete die Reorganisation der Streitkräfte, um eine grosse Datenmenge gleichzeitig zu bearbeiten und (mit verbündeten Staaten?) zu teilen. So könnten Roboter eines Tages sofort die beste Taktik vorschlagen.3 Wie wir sehen werden, haben die tiefgreifenden Reformen, die er initiiert hatte, schnell begonnen, giftige Früchte zu produzieren.
Das US-amerikanische neo-imperialistische Denken
Diese Ideen und Fantasien führten vorerst Präsident Bush und die Marine dazu, das grösste internationale System von Entführung und Folter zu organisieren, das 80 000 Opfer forderte. Dann hat Präsident Obama ein Mord-System eingerichtet, hauptsächlich durch Drohnen, aber auch durch Kommandos, das in 80 Ländern aktiv ist und über ein jährliches Budget von 14 Milliarden Dollar verfügt.4
Seit dem 11. September führte der Assistent von Admiral Cebrowski, Thomas P. M. Barnett, viele Konferenzen im Pentagon und in den Militärakademien durch, um zu verkünden, wie gemäss dem Pentagon die neue Karte der Welt aussehen soll.5 Dieses Projekt wurde durch die Strukturreformen der US-Streitkräfte ermöglicht; Reformen, aus denen diese neue Vision der Welt hervorgeht. Es schien so verrückt, dass ausländische Beobachter es rasch als eine weitere rein rhetorische Aussage einstuften, um den zu unterjochenden Völkern Angst einzuflössen.
Barnett schlug vor, dass die USA, um ihre Hegemonie auf der ganzen Welt aufrechterhalten können, die Welt in zwei Teile aufspalten sollten. Auf der einen Seite die stabilen Staaten (G-8-Mitglieder und ihre Verbündeten), auf der anderen der Rest der Welt, der einzig als Reservoir für Bodenschätze dienen sollte. Anders als seine Vorgänger hielt Barnett den Zugriff auf diese Ressourcen für Washington nicht mehr für lebenswichtig, erklärte aber, sie sollten für die stabilen Staaten nur über die Dienste der US-amerikanischen Armeen zugänglich sein. Es sollten daher alle staatlichen Strukturen in diesem Reservoir für Bodenschätze systematisch zerstört werden, damit niemand eines Tages gegen den Willen von Washington handeln oder direkt mit den stabilen Staaten Handel betreiben könnte.
Während seiner Rede zur Lage der Nation im Januar 1980 legte Präsident Carter seine Doktrin dar: Washington betrachte die Versorgung seiner Wirtschaft mit dem Öl aus dem Golf als eine Sache der nationalen Sicherheit.6 In der Folge rüstete sich das Pentagon mit dem CentCom aus, um diese Region kontrollieren zu können. Aber heute importiert Washington weniger Öl aus dem Irak und Libyen als vor diesen Kriegen und hat kein Interesse mehr daran!
Staatliche Strukturen zu zerstören ist gleichbedeutend mit Chaos bewirken, ein von Leo Strauss entlehntes Konzept, dem Barnett aber einen neuen Sinn gibt. Für den jüdischen Philosophen kann das jüdische Volk, nach dem Scheitern der Weimarer Republik und dem Holocaust, den Demokratien nicht mehr trauen. Das einzige Mittel für ihn, sich vor einem neuen Nationalsozialismus zu schützen, ist, seine eigene globale Diktatur zu errichten – für das Wohl aller, natürlich. Man müsste also manche resistente Staaten zerstören, sie in das Chaos zurückwerfen und nach neuen Gesetzen wieder aufbauen.7
Das ist es, was Condoleezza Rice in den ersten Tagen des Krieges gegen Libanon im Jahr 2006 sagte, als Israel noch zu siegen schien: «Ich sehe keinen Nutzen in der Diplomatie, wenn man damit nur zur früheren Situation zwischen Israel und Libanon zurückkehrt. Ich denke, es wäre ein Fehler. Was wir hier sehen, ist in gewisser Weise der Anfang, sind die Geburtswehen eines neuen Mittleren Ostens, und was immer wir tun werden, wir müssen sicher sein, dass wir für einen neuen Mittleren Osten arbeiten und nicht zum alten zurückkehren.»
Gemäss Barnett dagegen muss man nicht nur die einzelnen widerspenstigen Völker ins Chaos stürzen, sondern all jene, die noch keinen bestimmten Lebensstandard erreicht haben; und wenn sie sich im Chaos befinden werden, muss man sie auch dort halten.
Seit dem Tod von Andrew Marshall, der den «Angelpunkt Richtung Asien» [Pivot to Asia] erfunden hatte, ist übrigens der Einfluss der Straussianer im Pentagon zurückgegangen.8
Einer der grossen Brüche zwischen den Gedanken von Barnett und denen seiner Vorgänger ist, dass der Krieg nicht gegen bestimmte Staaten aus politischen Gründen geführt werden soll, sondern gegen Teile der Welt, weil sie nicht im globalen Wirtschaftssystem integriert sind. Natürlich wird man mit diesem oder jenem Land beginnen, aber man wird die Ansteckung fördern, bis alles zerstört ist, wie im erweiterten Nahen Osten zu sehen ist. Heute geht der Krieg mit Panzern weiter, sowohl in Tunesien, in Libyen, in Ägypten (Sinai), Palästina, in Libanon (Ain al-Hilweh und Ras Baal Beck), in Syrien, im Irak, in Saudi-Arabien (Qatif), in Bahrain, im Jemen, in der Türkei (Diyarbakır) wie auch in Afghanistan.
Deshalb stützt sich die neo-imperialistische Strategie von Barnett zwangsläufig auf Elemente der Theorien von Bernard Lewis und Samuel Huntington ab, den «Krieg der Zivilisationen».9 Da es unmöglich ist, unsere Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Menschen in den Reservoirs an Bodenschätzen zu rechtfertigen, wird man sich immer einreden können, dass unsere Zivilisationen nicht kompatibel seien.
Die Umsetzung des US-Neo-Imperialismus
Genau diese Politik wird seit dem 11. September umgesetzt. Keiner der geführten Kriege wurde beendet. Seit 16 Jahren sind die Lebensbedingungen der afghanischen Bevölkerung jeden Tag schrecklicher und gefährlicher. Der Wiederaufbau ihres Staates, der nach dem Modell von Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg angekündigt war, hat nie stattgefunden. Die Präsenz der Nato-Truppen hat das Leben der Afghanen nicht verbessert, sondern verschlechtert. Heute ist die Nato-Präsenz offensichtlich die Ursache des Problems. Trotz der beschwichtigenden Reden über internationale Hilfe sind diese Truppen nur da, um das Chaos zu vertiefen und aufrechtzuerhalten.
Jedes Mal, wenn die Nato-Truppen intervenierten, waren die offiziellen Gründe des Krieges gelogen, das war so in Afghanistan (Verantwortlichkeit der Taliban für die Anschläge vom 11. September), in Irak (Unterstützung der Terroristen vom 11. September durch Präsident Hussein und die Vorbereitung von Massenvernichtungswaffen, um die USA zu treffen), in Libyen (Bombardierung des eigenen Volkes durch die Armee) und in Syrien (Diktatur von Präsident Assad und der Sekte der Alawiten). Niemals hat der Sturz einer Regierung diesen Kriegen ein Ende gesetzt. Alle gehen ununterbrochen weiter, unabhängig davon, welche Verantwortlichen an der Macht sind.
Die «arabischen Frühlinge», wenn sie auch einer Idee des MI 6 entstammen, nach dem Muster des «arabischen Aufstandes von 1916» und den Heldentaten von Lawrence von Arabien, waren auch Teil diese US-Strategie. Tunesien ist unregierbar geworden. Ägypten wurde glücklicherweise von seiner Armee übernommen und versucht heute, seinen Kopf über Wasser zu halten. Libyen ist zu einem Schlachtfeld verkommen, und zwar nicht seit der Resolution des Sicherheitsrats, die forderte, die Bevölkerung zu schützen, sondern nach der Ermordung von Muammar al-Gaddafi und dem Sieg der Nato. Syrien ist ein Ausnahmefall, weil der Staat nie in die Hände der Muslim-Bruderschaft geraten ist und diese dort kein Chaos anrichten konnten. Aber viele aus der Muslim-Bruderschaft hervorgegangene Dschihadisten-Gruppen haben Teile des Staatsgebiets unter Kontrolle gehabt – und kontrollieren sie noch –, wo sie auch das Chaos verbreitet haben. Weder das Kalifat von Da’sh, noch Idlib unter al-Kaida sind Staaten, in denen der Islam gedeihen kann, sondern Zonen des Terrors ohne Schulen, ohne Krankenhäuser.
Es ist wahrscheinlich, dass es Syrien dank seiner Bevölkerung, seiner Armee und seiner russischen, libanesischen und iranischen Verbündeten gelingt, diesem von Washington vorgesehenen Schicksal zu entrinnen, aber der erweiterte Nahe Osten wird weiterhin brennen, bis seine Völker die Pläne ihrer Feinde durchschauen. Wir sehen, dass der gleiche Zerstörungsprozess im Nordwesten von Lateinamerika beginnt. Die westlichen Medien sprechen verächtlich von Unruhen in Venezuela, aber der Krieg, der dort entsteht, wird sich nicht auf dieses Land beschränken, er wird auf die gesamte Region übergreifen, obwohl die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen der Staaten, aus denen sie sich zusammensetzt, sehr unterschiedlich sind.
Die Grenzen des US-amerikanischen Neo-Imperialismus
Die US-Strategen vergleichen gerne ihre Macht mit der des Römischen Reiches. Aber dieses brachte den Völkern, die es eroberte und integrierte, Sicherheit und Wohlstand. Es baute Monumente und richtete ihre Gesellschaften zweckmässig ein. Im Gegensatz dazu bringt der amerikanische Neo-Imperialismus nichts, weder den Völkern der stabilen Staaten noch denen des Reservoirs für Bodenschätze. Er plant, erstere zu erpressen und die sozialen Bindungen, die letztere zusammenschweissen, zu zerstören. Aber er will keineswegs letztere vernichten, sie müssen jedoch leiden, damit das Chaos, in welchem sie leben, verhindert, dass stabile Staaten ohne den Schutz der US-Streitkräfte dort Bodenschätze ergattern können.
Bisher ging der imperialistische Plan davon aus, dass man «kein Omelette machen kann, ohne Eier zu zerschlagen». Er nahm in Kauf, kollaterale Massaker zu begehen, um seine Vorherrschaft zu vergrössern. Nun plant er verbreitete Massaker, um seine Autorität auf Dauer zu sichern.
Der US-amerikanische Neo-Imperialismus setzt voraus, dass andere Staaten und ihre Verbündeten akzeptieren, dass ihre Interessen im Ausland durch die US-Streitkräfte «geschützt» werden. Wenn dies für die Europäische Union kein Problem darstellt, die bereits seit sehr langer Zeit entmannt ist, so wird es mit dem Vereinigten Königreich wohl Diskussionen bewirken und mit Russ-land und China ganz unmöglich sein.
Unter Hinweis auf seine «besondere Beziehung» zu Washington hat London bereits verlangt, am US-Projekt zur Erringung der Weltherrschaft beteiligt zu werden. Dies war der Sinn der Reise von Theresa May in die Vereinigten Staaten im Januar 2017, aber sie hat keine Antwort erhalten.10
Es ist auch undenkbar, dass die US-Streitkräfte die Sicherheit der neuen «Seidenstrassen» garantieren, wie sie es heute mit ihren britischen Partnern für die See- und Luftwege machen. Ebenso ist es undenkbar, Russland in die Knie zu zwingen. •
(Übersetzung Horst Frohlich/Zeit-Fragen)
Quelle: www.voltairenet.org/article197487.html (Teil 1) und www.voltairenet.org/article197540.html (Teil 2)
1 Ullman, Harlan K. & al. Shock and awe: achieving rapid dominance. ACT Center for Advanced Concepts and Technology, 1996
2 Mahajan, Rahul. Full Spectrum Dominance. U.S. Power in Iraq and Beyond, Seven Stories Press, 2003
3 Alberts, David S./ Garstka, John J. & Stein, Frederick P. Network Centric Warfare: Developing and Leveraging Information Superiority, CCRP, 1999
4 Shaw, Ian G. R. Predator empire : drone warfare and full spectrum dominance, University of Minnesota Press, 2016
5 Barnett, Thomas P. M. The Pentagon’s New Map, Putnam Publishing Group, 2004
6 Carter, Jimmy. «State of the Union Address 1980», Voltaire Network, 23. January 1980
7 Einige Spezialisten des politischen Gedankenguts von Leo Strauss interpretieren es völlig anders. Mich interessiert es jedoch nicht, woran der Philosoph dachte, sondern was jene im Sinn haben, die sich im Pentagon – zu Recht oder zu Unrecht – auf ihn berufen:
Drury, Shadia B. Political Ideas of Leo Strauss, Palgrave Macmillan, 1988
Norton, Anne. Leo Strauss and the Politics of American Empire, Yale University Press, 2005
Gottfried, Paul Edward. Leo Strauss and the conservative movement in America : a critical appraisal, Cambridge University Press, 2011
Minowitz, Peter. Straussophobia : Defending Leo Strauss and Straussians Against Shadia Drury and Other Accusers, Lexington Books, 2016
8 Krepinevich, Andrew F. & Watts, Barry D. The Last Warrior: Andrew Marshall and the Shaping of Modern American Defense Strategy, Chapter 9, Basic Books, 2015
9 «The Clash of Civilizations?» & «The West Unique, Not Universal», Foreign Affairs, 1993 & 1996
Huntington, Samuel. The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, Simon & Schuster, 1996
10 May, Theresa. «Theresa May addresses US Republican leaders», Voltaire Network, 27 January 2017