german-foreign-policy.com: Der Chef des türkischen Geheimdienstes MIT, Hakan Fidan, hat am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz dem BND eine Liste mit den Namen von rund 300 Personen und zahlreichen Organisationen aus Deutschland übergeben, über die er Auskunft haben wollte. Auf der Liste standen unter anderem eine Bundestagsabgeordnete und eine ehemalige Staatssekretärin des Berliner Senats. Wie ist Fidan auf die Idee gekommen, der BND werde ihn so ganz ohne Weiteres mit Informationen über sie versorgen?
Erich Schmidt-Eenboom: Es gibt traditionelle Austauschvereinbarungen zwischen den türkischen und den deutschen Nachrichtendiensten, die Informationen über türkische Oppositionelle betreffen – Schwerpunkt: PKK. Das Kammergericht Berlin hat 1983 sogar festgestellt, dass der BND über Zugang zu den Asylbewerberakten im Bundesverwaltungsamt verfügt und auch aus diesen Materialien den türkischen Nachrichtendienst beliefert. Inzwischen werden aber offensichtlich deutlich weniger Informationen an den MIT weitergereicht, was die Anwürfe aus Ankara erklärt, die Bundesrepublik unterstütze die PKK. Verfassungsschützer haben in den letzten Wochen betont: Wenn es nach den Wünschen der türkischen Dienste ginge, müsste man ihnen jede Woche mehrere hundert Informationen übergeben. Aufgrund deutscher Datenschutzbestimmungen tut man das aber nicht. Ich denke, dass der Vorstoß von Hakan Fidan in München vor allem innenpolitische Ziele verfolgte, denn dem Mann, der bei der NATO in Mönchengladbach gedient hat, war durchaus klar, dass er nie Antworten auf seine Anfrage bekommen würde. Aber Erdoğan konnte dann einmal mehr verbreiten, die Bundesrepublik Deutschland sei nicht bereit, bei der Bekämpfung des Terrorismus mit der Türkei zusammenzuwirken. Das erlaubt den türkischen Nachrichtendiensten dann im Gegenzug, Informationen zurückzuhalten, die wichtig wären für die Bekämpfung des jihadistischen Terrorismus, namentlich Erkenntnisse über den sogenannten Islamischen Staat (IS).
gfp.com: Sie sagen, der BND habe seine Zusammenarbeit mit dem MIT deutlich zurückgefahren. Wieso?
Schmidt-Eenboom: Es gibt tatsächlich einen Bruch in den deutsch-türkischen, auch in den französisch-türkischen Geheimdienstbeziehungen; dieser Bruch datiert etwa von Ende 2013, Anfang 2014, als die türkischen Stellen auf sogenannte Reisewegkontrollmaßnahmen nicht mehr reagierten. Unter Reisewegkontrollmaßnahmen versteht man eine Anfrage der deutschen oder der französischen Dienste an den türkischen Partnerdienst, die zum Beispiel lautet: Ein Islamist ist mit einem One-Way-Ticket aus Frankfurt am Main nach Ankara geflogen; könnt ihr mal bitte Auskunft über seinen Verbleib geben? Eine Studie des Deutschen Bundestages zeigt, dass die Türkei in dieser Zeit die reinste Jihadistenautobahn nach Syrien war. Bei entsprechenden Anfragen hat die türkische Seite damals nachhaltig blockiert, und das ist ein Grund, weshalb die nachrichtendienstliche Zusammenarbeit zur Zeit weitgehend auf Eis liegt. Ein weiterer Grund ist das Wiederaufleben von MIT-Mordanschlägen im Ausland, namentlich die Ermordung von drei Kurdinnen in Paris Anfang 2013. Der Attentäter ist in der Haft verstorben, aber ein guter Freund von mir konnte die Anklageschrift der französischen Staatsanwaltschaft einsehen, und aus dieser geht eindeutig eine Mittäterschaft des türkischen Auslandsnachrichtendienstes hervor. Das belastet die Beziehungen. Es gab das schon mal in den 1980er Jahren, als MIT-Agenten PKK-Mitglieder in Norddeutschland, in Berlin, aber auch in den Niederlanden umbrachten; damals gab es starken Druck auf die Türkei, solche Operationen in Europa einzustellen. Unter Erdoğan leben sie nun wieder auf.
gfp.com: Stichwort IS: Bei den engen Beziehungen des BND zum MIT muss man sich in Berlin ja wohl im Klaren gewesen sein, dass Ankara mit Hilfe seiner Geheimdienste den IS unterstützte.
Schmidt-Eenboom: Selbstverständlich. Dass die Türkei, unterstützt von Saudi-Arabien und Qatar, bis mindestens Mitte 2014 den IS unterstützt hat – mit logistischer Hilfe, mit dem Durchschleusen von Jihadisten, mit Lazarettaufenthalten verwundeter IS-Kämpfer in der Türkei, mit der Abnahme von Erdöllieferungen aus dem IS-Gebiet -, das war in der Fachpresse bekannt und dem BND und damit auch der Bundesregierung natürlich auch.
gfp.com: Auch wenn die deutsch-türkische Geheimdienstkooperation jetzt eingeschränkt wird – seit wann gibt es sie denn eigentlich?
Schmidt-Eenboom: Die Residentur des BND in Ankara war eine der allerersten, die Reinhard Gehlen als BND-Chef aufgebaut hat. In der Zeit des Kalten Krieges gab es eine überaus intensive Kooperation. Da gab es zum Beispiel eine gemeinsame Fotoaufklärung der deutschen und der türkischen Nachrichtendienste am Bosporus, wo man die durchfahrenden sowjetischen Kriegs- und Handelsschiffe gemeinsam abgelichtet hat. Die intensivste Zusammenarbeit gab es bei der fernmeldeelektronischen Aufklärung; dabei haben nicht nur die Amerikaner, sondern auch die Deutschen den Türken massiv Hilfestellung geleistet, namentlich in der Aufklärungsstation Samsum am Schwarzen Meer. Diese Station hat der BND nicht nur technisch ausgerüstet, er hat auch Personal seiner Peilstation am Chiemsee dorthin geschickt; es ging darum, mit Hilfe einer breiten Peilbasis fernmeldeelektronische Aufklärung in der Tiefe der UdSSR leisten zu können. Zwar gab es Brüche zwischen amerikanischen und türkischen Nachrichtendiensten, als türkische Truppen einen Teil Zyperns besetzten; die Amerikaner haben damals sogar ein Waffenembargo verhängt, die CIA und die NSA haben alle nachrichtendienstlichen Kooperationen abgebrochen. Der BND aber hat das nicht getan. Er hat sogar während der letzten Militärdiktatur Anfang der 1980er Jahre über seinen damaligen Residenten in Ankara, Rainer Keßelring, dem MIT technische Unterstützung gewährt, insbesondere Erfassungssysteme, mit denen man Namen und Daten von Oppositionellen verarbeiten konnte. Der BND war ein Gehilfe der türkischen Militärdiktatur.
gfp.com: Und jetzt gibt es einen Bruch?
Schmidt-Eenboom: Nicht erst jetzt. Die ersten Brüche gab es schon Anfang der 1990er Jahre, also gleich nach dem Ende des Kalten Kriegs. Offensichtlich wurde das, als die türkische Presse begann, unseren ach so friedliebenden Außenminister Hans-Dietrich Genscher in Karikaturen mit Hitlerbärtchen zu zeichnen und ihm zu unterstellen, mit dem wiedervereinigten Deutschland eine aggressive Außenpolitik zu betreiben. Der eigentliche Hintergrund war, dass die Türkei damals eine intensive Einflusspolitik in den zentralasiatischen Republiken startete, die ja gerade aus dem sowjetischen Staatsverbund ausgeschieden waren. Die Türkei hat die zentralasiatischen Staaten, in denen der Islam verbreitet ist, schon aus religiösen Gründen als ihr traditionelles Einflussgebiet eingestuft. Dabei gab es einen Wettlauf mit Deutschland insbesondere auf ökonomischem Gebiet, weil Zentralasien ja immens reich an Erdöl- und Erdgasvorkommen ist. Da die Bundesrepublik mit viel größerer Finanzpower operieren konnte, gab es einen Interessenkonflikt zwischen deutschen und türkischen Nachrichtendiensten.
Die nächsten Konflikte gab es dann während der Sezessionskriege in Jugoslawien; damals hat die Türkei versucht, in Albanien Fuß zu fassen und die UÇK nachrichtendienstlich zu übernehmen. In beiden Fällen ist der MIT Ende der 1990er Jahre zunächst durch den BND und dann durch die CIA ausgebootet worden.
gfp.com: Wie sieht es heute mit der auswärtigen Einflussarbeit der Türkei und des MIT aus?
Schmidt-Eenboom: Erdoğans Politik des sogenannten Neo-Osmanismus führt dazu, dass er die Einflusspolitik in den Nachbarstaaten der Türkei forciert. Ankara hat eine solche Einflusspolitik – und das nicht nur in den unmittelbaren Nachbarstaaten – immer betrieben. Ein Beispiel reicht zurück in den Krieg der Mujahedin gegen die sowjetische Besatzungsmacht im Afghanistan der 1980er Jahre. Dort hat die Türkei den usbekischen Warlord Rashid Dostum unterstützt. Nicht umsonst bekam Dostum während der Zeit des Talibanregimes Asyl in der Türkei. Dann gab es massive Einwirkungen auf die Uiguren in der nordwestchinesischen Region Xinjiang; dort hat der türkische Nachrichtendienst versucht, die separatistischen Bestrebungen zu unterstützen. Es gibt Bemühungen um Einfluss in Bosnien, in Albanien – jeweils auf der religiösen Schiene. Das hat auch unter dem kemalistischen MIT stattgefunden, wird nun aber von Erdoğan massiv forciert – übrigens mit einem ganz neuen Bedrohungscharakter: Erdoğan hat einmal erklärt, die Türkei dürfe nicht in den derzeitigen Grenzen eingesperrt bleiben, woraufhin in der konservativen türkischen Presse Landkarten abgebildet wurden, auf denen Teile Bulgariens und Nordgriechenlands, in denen es starke türkischsprachige Minderheiten gibt, dem türkischen Staatsgebiet zugeschlagen wurden, ebenso wie Teile des Nordirak. Für die größte außenpolitische Gefahr hält Erdoğan einen unabhängigen Kurdenstaat im Norden des Irak, der eine Magnetwirkung auf die Kurden im eigenen Land und auf die syrischen Kurden hätte. Das macht auch deutlich, warum Erdoğan im Augenblick zwar punktuell gegen den IS vorgeht – aufgrund internationalen Drucks -, warum sich aber die Masse seiner militärischen Aktionen gegen syrische Kurden und die PKK richtet.
gfp.com: Es stecken also klare Interessengegensätze hinter den Brüchen auf der geheimdienstlichen Ebene?
Schmidt-Eenboom: So ist es. Die Interessengegensätze sind ganz massiv geworden. Der MIT war immer ein großer regionaler Player. Unter Hakan Fidan versucht er nun aber, in die Position eines Global Players zu gelangen. Das geht so weit, dass er sogar eine Schaukelpolitik betreibt zwischen der NATO und Russland. Es gibt inzwischen sehr enge nachrichtendienstliche Beziehungen des MIT zum russischen Auslandsnachrichtendienst, auch ganz persönliche Beziehungen von Hakan Fidan zu Wladimir Putin. Die Türkei will sich mit Hilfe dieser Schaukelpolitik als eigenständige Macht positionieren. Daher übrigens auch Erdoğans ständige Provokationen gegenüber Berlin: Er scheint die Bundesregierung geradezu zu einem harten Schnitt nicht nur auf geheimdienstlicher, sondern auf übergeordneter politischer Ebene drängen zu wollen, um nicht selbst als derjenige dazustehen, der diesen Schnitt vollzogen hat. Soll die Türkei eine wirklich eigenständige Macht werden, dann braucht sie diesen Schnitt aber.