20. Juni 2014
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20.06.2014 / Ausland / Seite 6Inhalt
Gesellschaft in Geiselhaft
Israel geht mit massiver Gewalt gegen Palästinenser vor. Mehr als 750 Wohnungen durchsucht und teilweise verwüstet. Über 300 Festnahmen
Von Karin Leukefeld Seit dem Verschwinden von drei israelischen Jugendlichen vor einer Woche geht Israel auf allen Ebenen mit massiver Gewalt gegen die palästinensische Bevölkerung vor. Die beiden 16jährigen Naftali Frenkel und Gilad Shaar und der 19jährige Eyal Yifrach waren unweit der Siedlung Gush Etzion beim Trampen verschwunden. Nach Polizeiangaben soll einer der Jugendlichen sich unmittelbar danach telefonisch bei der Polizei gemeldet und erklärt haben, »entführt« worden zu sein. Zur Identität der »Entführer« gibt es keine Angaben. Völkerrechtlich gilt die Siedlung, in der die Jugendlichen verschwanden, als illegal, weil sie auf besetztem Land der Palästinenser erbaut wurde. Gush Etzion liegt zwischen Bethlehem und Hebron in einem von der israelischen Besatzungsbehörde als »Gebiet C« bezeichneten Territorium, das vollständig von der israelischen Armee kontrolliert wird.
Die israelische Regierung beschuldigt die Hamas, die Jungen entführt zu haben. Die Organisation weist die Anschuldigung zurück. Die Knesset-Abgeordnete Haneen Zoabi (Balad-Partei) brachte die Entführung der Jugendlichen mit der Unterdrückung durch die israelischen Besatzungstruppen in Verbindung. In einem Interview mit Radio Tel Aviv sagte sie, es sei nicht verwunderlich, wenn Palästinenser die Jugendlichen entführt hätten. Die Palästinenser lebten in »unnatürlichen Umständen, wo Israel die Menschen täglich entführt und festnimmt«. Die Palästinenser seien keine Terroristen, sondern »ein Volk, das keinen anderen Ausweg sieht, um seine Lage zu ändern. Sie werden gezwungen sich so zu verhalten, bis Israel ein Einsehen hat, bis es das Leid der anderen sieht und spürt.« Der israelische Außenminister Avigdor Lieberman nannte Zoabi daraufhin eine »Terroristin«, die das gleiche »Schicksal wie die Entführer« der Jugendlichen ereilen werde. Der israelische Schriftsteller Avraham Burg äußerte sich in einem Beitrag in der Tageszeitung Haaretz dagegen ähnlich wie Haneen Zoabi. Unter dem Titel »Die Palästinenser: Gesellschaft in Geiselhaft« schrieb Burg: »Wir sind unfähig, das Leid einer Gesellschaft, ihren Schrei und ihre Zukunft zu verstehen, einer Nation, die von uns gewaltsam entführt worden ist.«
Die israelischen Besatzungskräfte haben seit dem Verschwinden der Jugendlichen mehr als 750 Wohnungen durchsucht, wobei es teilweise zu erheblichen Verwüstungen in den Räumen kam. Der Leiter der Palästinensischen Gefangenenhilfsorganisation in Hebron, Amjad Al-Najjar, sagte, daß mehr als 300 Personen festgenommen wurden. 52 der Festgenommenen sind demnach ehemalige Gefangene, die in einem Gefangenenaustausch für den israelischen Soldaten Gilad Shalit im Oktober 2011 freigekommen waren. Elf der Verhafteten sind Mitglieder des palästinensischen Parlaments. Die Stadt Hebron sowie weite Teile des südlichen Westjordanlandes wurden abgeriegelt.
In der Nacht zum Donnerstag bombardierte die israelische Luftwaffe erneut Ziele im Gazastreifen. Vier israelische Panzer haben Augenzeugenberichten zufolge am vergangenen Mittwoch landwirtschaftlich bewirtschaftetes Land bei Khan Younis im südlichen Gazastreifen niedergewalzt. Sieben palästinensische Familien wurden obdachlos, als ihre Häuser in Al-Khader bei Bethlehem von der israelischen Armee niedergewalzt wurden. Auch ein Brunnen des Ortes wurde von den israelischen Militär-Bulldozern zerstört. Weitere vier Häuser und zwei Ställe wurden südlich von Hebron zerstört. Nach israelischen Angaben waren die Gebäude ohne Genehmigung von den Palästinensern gebaut worden. Israel erteilt in den besetzten Gebieten Baugenehmigungen nur für Siedlungen.
Zeitgleich mit der Zerstörung der palästinensischen Häuser wurde denn auch der Bau von 170 weiteren Wohneinheiten für Siedler im von Israel besetzten Ostjerusalem genehmigt. Im Mai erst hatten EU-Vertretungen in Jerusalem und Ramallah Israel aufgefordert, die Zerstörung von palästinensischen Häusern in der »C-Zone« einzustellen. Das Israelische Komitee gegen Hauszerstörungen (ICAHD) hat seit Anfang 2014 den Abriß von 248 palästinensischen Häusern und Gebäuden dokumentiert. Dabei wurden 492 Personen obdachlos. Seit der völkerrechtswidrigen Besetzung des Westjordanlandes durch Israel 1967 haben die Besatzungstruppen etwa 27000 palästinensische Wohnungen dem Erdboden gleichgemacht.
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